„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere [...].“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 20a)
„Wenn wir uns an unsere alte Lebensweise klammern, werden wir ganz sicher in einer neuen Barbarei landen. Erst wenn wir zugeben, dass die Lage – innerhalb der bestehenden Weltordnung – aussichtslos ist, können wir einen Ausweg finden.“ (Slavoj Žižek: Unordnung im Himmel, 2022)
Kunsthochschulen sind anders: Unser Denken ist ein anderes und unser Wissen ist ein anderes. Was also zählt, ist das Andere, das, was die bestehende Meinung verschiebt, durchkreuzt, umstürzt. Das 21. Jahrhundert gibt dem Rilkeschen „Du mußt dein Leben ändern“ eine globale Dimension. Es geht besonders an einer Kunsthochschule nicht zuerst um das technokratische Funktionieren und um die Vermittlung fertigen Wissens, sondern vor allem um die Entwicklung neuer Denk- und Gestaltungsformate. Es geht nicht zuerst um die Antworten, sondern vor allem und zuallererst um die Fragen, und zwar um die richtigen Fragen. Dabei sind Kunst und Gestaltung immer auch Einübungen in Toleranz und im Aushalten von Ambiguität und Ungewissheit.
Freiheit
Im Zentrum der Kunsthochschulen stehen Kunst und Design, das Künstlerische, das Schaffende, die Produktivität. Von hier aus wird klar: kein Machen ohne Denken, kein Denken ohne Machen. In Kunst und Design gehören Machen und Denken zusammen. Das Wechselverhältnis von Theorie und Praxis ist ein permanenter Prozess, eine kreisende Bewegung um das von künstlerischer Produktivität ausgehaltene Zentrum. Dieser Prozess ist vergleichbar mit Friedrich Schlegels Idee der „progressiven Universalpoesie“, die auf die wesensmäßige Unabgeschlossenheit der Moderne verweist. Schlegel schreibt: „Die romantische Dichtart [wir können ersetzen: Kunst und Gestaltung im Ganzen] ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ Diese unendliche Annäherung ist ein Prozess, den jede einzelne Person, jedes Team und jede Institution in Bewegung halten muss. Es ist Freiraum nötig, um sich zu bewegen. Deshalb ist die erste Bedingung der Kunst und des Designs: Freiheit! Und für die deutschen Kunsthochschulen als Institutionen gilt selbstverständlich dasselbe.
In seinem 2001 erschienenen Buch L’université sans condition / Die unbedingte Universität stellt sich Jacques Derrida ganz auf diese Seite, wenn er schreibt: „Was die Universität beansprucht, ja erfordert und prinzipiell genießen sollte, ist [...] eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung, mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt. [...] Die Universität macht die Wahrheit zum Beruf – und sie bekennt sich zur Wahrheit, sie legt ein Wahrheitsgelübde ab.“
Das ist also die ideale Seite der Kunsthochschulen: Institutionen, die das Wahre, Gute und Schöne in Freiheit repräsentieren. Doch dieser idealen Seite steht eine reale entgegen: die Forderung nach Zeitgenossenschaft und Aktualität, die Ansprüche von Markt und Öffentlichkeit. Ein Bedingungsgeflecht aus Politik und Gesellschaft zwischen kulturell-sozialer Verantwortung und künstlerischer Freiheit.
Widerstand
Wir können als Kunsthochschulen unseren Teil zum Bedenken und Gestalten des gesellschaftlichen Wandels beitragen. Wir wollen die Chance nutzen für ein gesellschaftliches Weiterdenken! Wir wollen mithelfen, das Hamsterrad des „Größer, Schneller, Stärker“ anzuhalten, wir wollen mitarbeiten am großen Thema der Nachhaltigkeit und an der Qualität öffentlicher Güter, wir wollen mit unseren Mitteln Kultur und Bildung, Gesundheit und Verkehr verbessern. Die globale Dynamik von Ökonomie und Technologie kann jedenfalls einen künstlerisch-gestalterischen Widerstand gut gebrauchen, wenn dieser Widerstand produktiv ist.
Die deutschen Kunsthochschulen
Wir sind davon überzeugt, dass von Kunst und Design eine Signalwirkung in die Gesellschaft ausgeht. Diese Signale wollen die deutschen Kunsthochschulen ganz individuell aber auch gemeinsam setzen: „In der Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen (RKK) haben sich 25 Kunsthochschulen und Kunstakademien in ihrer ganzen Vielfalt und Heterogenität zu einem bildungspolitischen Forum zusammengeschlossen“, heißt es dazu in einem unserer Statements.
Die besondere Atmosphäre, die gelebte Freiheit, Offenheit und Vielfalt an den deutschen Kunsthochschulen zieht eine überdurchschnittlich hohe Anzahl internationaler Studierender und Lehrender an. Unsere Studierenden bewerben sich um einen Studienplatz und werden erst nach einem meist mehrstufigen Auswahlprozess zugelassen. So erhalten sie Auskunft über ihre künstlerische Eignung und es brechen sehr wenige Personen ihr Studium ab. Besonders attraktiv ist das Studium auch durch das Arbeiten an konkreten Projekten in kleinen, intensiv betreuten Gruppen. Diese besondere Nähe zu den Lehrenden erfordert umgekehrt eine große Aufmerksamkeit der Kunsthochschulen für Abhängigkeitsverhältnisse: Wir sind uns dieser Aufgabe sehr bewusst!
Aus unserer Sicht wurden wir in den vergangenen Jahren nicht angemessen wahrgenommen. Deshalb arbeiten wir mit Nachdruck an unserer hochschulpolitischen Sichtbarkeit, auch, indem wir gemeinsam seit September 2022 eine feste Stelle für eine Referentin geschaffen und auf unserer letzten RKK-Tagung im Mai 2023 in Kiel beschlossen haben, eine neue Website gestalten zu lassen.
Aktuelle hochschulpolitische Anliegen
Aktuelle hochschulpolitische Anliegen der deutschen Kunsthochschulen sind die Anerkennung künstlerischer Forschung, die Ermöglichung hybrider künstlerisch-wissenschaftlicher Qualifikationsphasen und die Verbesserung des Förderangebots. Durch die bundesweite Problematik der Lehrkräftegewinnung rückt auch das Lehramt Kunst verstärkt in den Fokus. Angesichts der langjährigen Versäumnisse vieler Landesregierungen hinsichtlich der Lehrkräftegewinnung sehen wir uns in der Pflicht, dem nun durch politischen Aktionismus deutschlandweit drohenden Qualitätsverlust entgegenzuwirken, indem wir in einem Statement vom 5. Juni 2023 fordern: „Das künstlerische Lehramtsstudium für die Schulen muss in allen Bundesländern ausnahmslos an den Kunsthochschulen verankert sein. [...] Die Basis für zukünftige Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen ist die Entwicklung einer eigenen künstlerischen Position. Nur im Atelierstudium an einer Kunsthochschule kann die grundsätzliche Eigenständigkeit künstlerischen Handelns und Reflektierens in der notwendigen Tiefe erfahren werden.“ Schließlich zeigen wir auch eine konkrete politische Lösung auf: „Um das Niveau der künstlerischen Ausbildung unverändert hoch zu halten, fordert die RKK das Großfach bzw. Doppelfach Kunst. Es ermöglicht den Lehramtsstudierenden, ihr Studium fokussiert an den Kunsthochschulen zu absolvieren und sich als ausgereifte Künstlerpersönlichkeiten den Herausforderungen der Lehre zu stellen. Wir empfehlen mit Nachdruck, dass die Möglichkeit Kunst als Großfach/Doppelfach zu studieren geschaffen wird oder erhalten bleibt.“
Kulturorte
Wir Kunsthochschulen haben vor allem einen Bildungsauftrag. Darüber hinaus sind wir Kulturorte, die ihre Campi als museion und agora beleben – beleben als Orte der Kultur und Orte der gesellschaftlichen Begegnung, des inspirierenden Austausches und Miteinanders. Im Sinne demokratischer Pluralität betont Juliane Rebentisch in ihrem Buch Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt, dass es „noch vor dem Streit der Meinungen um den Erhalt des Raumes gehen muss, in dem ein solcher Streit überhaupt stattfinden kann.“ In diesem Sinne wollen wir Kunsthochschulen als Orte der Freiheit und des Diskurses behaupten und weiterentwickeln: Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Leitbilder einer demokratischen Gesellschaft zu verteidigen und gegen populistische, nationalistische und antieuropäische Strömungen zu wirken, denn diese richten sich gegen Kunst und Design, gegen Wissenschaft und freies Denken. Wir stehen als Kunsthochschulen gegen Despotismus und für die Freiheit. Autonome Kunst, autonomes Design und emanzipatorische Individualität gegen staatliche Gleichmacherei und totalitäre Machtansprüche!
Herausforderungen der Gegenwart
„The time is out of joint“, sagt Hamlet am Ende des ersten Aktes. Dieses Shakespearesche „Die Zeit ist aus den Fugen“ heißt in unserer globusumspannenden Gegenwart ebenfalls: „Die Welt ist aus den Fugen.“ Die Welt ist eine Zumutung: Mit wachsendem Entsetzen sehen wir auf die Verletzlichkeit der Erde und der Natur, auf die realen Kriege und die ideellen Kriege der Weltanschauungen.
In dieser Situation kann es nicht darum gehen, solch einen Zustand auszuhalten und irgendwie weiterzumachen. Was also lässt uns Hoffnung schöpfen, was können wir tun? Bereits 1979 nimmt Hans Jonas in seiner epochemachenden Schrift Das Prinzip Verantwortung die nichtmenschliche Natur und die Zukunft in den Blick und formuliert seinen ökologischen Imperativ: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“.
Vor diesem Hintergrund öffnet sich für die deutschen Kunsthochschulen ein greifbarer Ausweg aus der Krisenhaftigkeit, ein echter Weg nach vorn: Wir leisten aus Verantwortung ikonische Überzeugungsarbeit für die Nachhaltigkeit: Wir handeln mit den Mitteln der Kunst und des Designs und entwerfen Zukunftsbilder „echten menschlichen Lebens auf Erden“. Bilder, die begeistern, Bilder, hinter die wir Menschen nicht einfach zurückgehen können!
„[...] ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus“, schreibt uns Hegel 1808 ins Stammbuch. Auch und gerade die deutschen Kunsthochschulen können mitwirken an einem neuen Bewusstsein, einem neuen Idealismus. Unsere Ideen, auch wenn sie nicht sogleich umgesetzt werden, bleiben präsent, bringen ins Denken, ermutigen zu neuen Fragen und anderen Antworten.
Was wir dabei allerdings nicht brauchen können, ist eine wissenschaftsfeindliche, antirationale Wiederverzauberung der Welt. Was wir brauchen, ist eine rationale Verzauberung: neue Bilder, komplex und lebendig; zukunftsweisende Bilder eines anderen Zusammenlebens. Neues muss überraschen und darf auch verstören, sonst bleiben wir entwicklungslos feststecken im Kokon – keine Verpuppung, nirgends. Schon 1891 heißt es bei Oscar Wilde: „Diversity of opinion about a work of art shows that the work is new, complex, and vital.“ Die Kunsthochschule als Ort des Wertewandels, als Nukleus der Veränderung!
Dieser Artikel erschien erstmals als Gastbeitrag von Dr. Arne Zerbst, Sprecher der KHK, im Heft 07/23 der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ sowie auf deren Website.